A. Rathmann-Lutz (Hrsg.): Visibilität des Unsichtbaren

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Titel
Visibilität des Unsichtbaren. Sehen und Verstehen in Mittelalter und Früher Neuzeit


Herausgeber
Rathmann-Lutz, Anja
Erschienen
Zürich 2011: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Stefan Matter, Departement für Germanistik, Universität Freiburg/Schweiz

Der Sammelband entstand aus einer im Jahr 2007 durchgeführten Arbeitstagung und vereinigt Beiträge junger Wissenschaftler aus den Fachgebieten Geschichte, Germanistik, Theologie und Kunstgeschichte. Der Haupttitel spielt mit der rhetorischen Figur des Oxymorons, Sichtbarkeit wird in diesem Band versuchsweise ausdifferenziert in Visualität und Visibilität. Unter ersterem wird das verstanden, was im Zuge des Vor-Augen-Stellens vermittels Aufführungen, Gegenständen oder Bildern sichtbar wird; Visibilität andererseits «[ist] zwar ohne sprachliche wie bildkünstlerische Visualisierungen kaum zu denken, richtet aber den Fokus auf die komplexen Prozesse der Bedeutungszuschreibung (nicht nur) durch den Rezipienten» (S. 10). Dabei wird Visibilität als «interdisziplinäre Hilfskonstruktion» (S. 12) verstanden, welche medienwissenschaftliche Theorieangebote verschiedener geisteswissenschaftlicher Disziplinen nicht zu harmonisieren, sondern gerade «den – theoretischen – Spalt, der sich zwischen Visibilität und der vermeintlich so eindeutigen Bedeutung seiner Übersetzung ins Deutsche als ‘Sichtbarkeit’ auftut, kreativ zu nutzen» unternimmt (S. 13).

In einer dichten Einleitung (Visibilität des Unsichtbaren – Eine Einleitung, S. 9–21) erläutern die Herausgeberin und Gunnar Mikosch dieses Konzept der Visualität, betten es in der Forschung ein und stellen die einzelnen Beiträge des Bandes vor. Ergänzt wird die Einleitung um eine Auswahlbibliographie (S. 23–25).

Im ersten Aufsatz («von dem ritter der dem andern solt volgen da er hienfúre». Über die Sichtbarkeit von Spuren im Prosa-Lancelot, S. 27–51) analysiert Christine Lechtermann mit dem ‘Prosalancelot’ einen literarischen Text, der die in der Einleitung des Tagungsbandes thematisierten Inszenierungsstrategien nicht nur auf der Ebene der erzählten Welt sichtbar macht, also vom Suchen erzählt, sondern auch den Lektürevorgang als Spurensuchen organisiert, und damit den Leser selbst zum suchenden, die Zeichen des Textes entschlüsselnden Rezipienten macht. «Insofern […] jeder Rezipient nicht nur […] immer schon Adressat aller gegebenen Zeichen ist, sondern zugleich weiss, dass ihm alles Erzählte auch etwas sagen soll, kann er hier vor allem immer wieder eines beobachten: die Bedingungen des Scheiterns und Gelingens von Verfahren, die Erkennbarkeit und Lesbarkeit in einer Fülle höchst beiläufiger, alltäglicher, ephemerer Phänomene stiften.» (S. 51)

Miriam Czock beschreibt in ihrem Beitrag (Kirchenräume schaffen, Kirchenräume erhalten. Kirchengebäude als heilige Räume in der Karolingerzeit, S. 53–67) die Heiligkeit von Kirchenräumen, wie sie in Quellen des achten und neunten Jahrhunderts erkennbar wird. Heiligkeit wird als «Zuschreibungsprodukt » (S. 56) verstanden, weshalb zunächst Kirchweihordines in den Blick genommen werden und mir ihrer Hilfe gezeigt wird, dass im Ritus «eine immerwährende Präsenz des nicht mit den Sinnen Wahrzunehmenden hergestellt ist» (S. 58). Diese Zuschreibung kann jedoch für sich offenbar nicht alleinige Gültigkeit beanspruchen, vielmehr verdeutlichen Kapitularien, «dass Kirchen eben nicht nur Orte des Gebets, der Verehrung Gottes und der spirituellen Gemeinschaft waren, […] sondern gleichzeitig als weltliche Versammlungs- und Nutzungsorte dienten» (S. 66). Visibel seien in einem solchen Raum dann mehrere Möglichkeiten seiner Nutzbarmachung, während die Kirchweihe lediglich die Visualisierung einer spezifischen leiste.

Mit der zugeschriebenen und tatsächlichen Wahrnehmung eines Kirchenraumes und seiner Ausstattung beschäftigt sich auch der Beitrag von Lucas Burkart (Die Aufhebung der Sichtbarkeit. Der Schatz der Sancta Sanctorum und die Modi seiner visuellen Inszenierung, S. 69–82). Die päpstliche Kapelle im Lateran scheint «ein Ort gewesen zu sein, der zwischen visueller Inszenierung oder Sichtbarkeit und Verbergen oder einer intendierten Unsichtbarkeit oszillierte» (S. 73). Auf der einen Seite zeugen nämlich Pilgerberichte von einer weitgehendfreien Zugänglichkeit der Kapelle, auf der anderen Seite erzählen eher normative Quellen, wie die päpstlichen Zeremonienbücher, von sehr restriktiven Zugangsbestimmungen. Über die Interpretation des Freskenprogrammes wie auch der Reliquienbehältnisse der Kapelle, in welchen immer wieder das verhüllende Zeigen ins Bild gesetzt wird, kommt Burkart zum Schluss, die Spannung zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit könne als das eigentliche Merkmal dieses Ortes gedeutet werden. Aufgelöst wird dieser nur scheinbare Widerspruch über eine Ausweitung des Sehbegriffes: «Partizipation, Ansichtigwerden und somit Sichtbarkeit in einem zeitgenössischen Sinn ergab sich eher aus der Präsenz sowie einem gesicherten Wissen um diese Präsenz.» (S. 79) Visibilität differenziert Burkart vor diesem Hintergrund in ein ganzes «Spektrum an Strategien der Bedeutungssteigerung» aus (S. 82).

Auch Henrike Haug geht in ihrem Beitrag («Calamo et atramento posteritati memorie reservare». Kunstbeschreibung als Instrument zur Rechtssicherung in Saint-Denis, Stablo und San Clemente in Casauria im 12. Jahrhundert, S. 83–102) zunächst von schriftlichen Quellen aus, allerdings primär von solchen, die auf Objekten aufgebracht sind. Sie interpretiert auf Schenkungen aufgebrachte Texte, deren Aufgabe es war, juristische Ansprüche der Auftraggeber sichtbar zu machen. Man schuf, so resümiert Haug – unter Verwendung eines von ihr nicht historisierten Kunstbegriffes –, «Kunstwerke in unterschiedlichen Formen, um sie als Träger von rechtlichem Wissen zu nutzen und durch diese Verbindung von Kunstwerk und Urkunde die Rechtsansprüche sichtbar zu machen und nach aussen zu kommunizieren» (S. 102).

Cornelia Logemann will in ihrem Beitrag (Herrschaft als Rollenspiel. Zur Genese allegorischer Darstellungsverfahren im Spätmittelalter, S. 103–136) «einige Möglichkeiten und Wege skizzier[en], mit denen Tugend als Eigenschaft des Herrschers sichtbar gemacht werden» konnten (S. 106). Sie behandelt unter dieser Fragestellung das französische Königshaus im 14. Jahrhundert und sucht nach Bildformeln, mit denen die Herrscherpersönlichkeiten gleichsam in die Rollen einzelner Tugenden schlüpfen konnten. Neben dem von ihr primär behandelten Fürstenspiegel ‘Avis aus roys’ für Ludwig von Anjou hätte sicherlich auch die farbige Welt der pas d’armes und der festlichen Einzüge reiches Material bereitgestellt und zudem den von Logemann herausgestellten Gegensatz von Text und Bild etwas weiter differenzieren können.

Anja Rathmann-Lutz thematisiert in ihrem Aufsatz (Übernehmen, übertragen, verschweigen. Zur Nutzung von Bildwissen im England des frühen 14. Jahrhunderts, S. 137–157) das bedeutsame Ausbleiben der sichtbaren Bezugnahme auf den Hl. Ludwig durch die englische Königin Isabella, die sich gerade vor dem Hintergrund des «offensiven – lauten – Umgangs Philipps IV. von Frankreich mit dem ‘image’ seines Grossvaters Ludwig IX.» als bedeutsam abhebt. Es wird verständlich vor dem Hintergrund der dezidiert eigenständigen Politik des englischen Königshauses, die lediglich die Visualisierung Ludwigs als Heiligen, nicht aber als König und direkter Verwandter angezeigt scheinen lässt.

Im letzten Beitrag des Bandes fragt Gunnar Mikosch (Ecclesia und Synagoge. Allegorie zwischen heilsgeschichtlichem Machtanspruch und christlichem Identitätskonflikt, S. 159–182), wie die Gewalt in die Darstellung der Personifikationen von Ecclesia und Synagoge gelangt, die häufig unter dem Crucifixus verbildlicht sind. Mikosch kann zeigen, dass im «Medium des Bildes […] Diskurse visibel [werden], die auf der Textebene unsichtbar und nicht zu fassen sind und sich dort auch nicht artikulieren (können)» (S. 182). In der Verbildlichung von Ecclesia und Synagoge artikuliert sich ein nicht aufgelöster Widerspruch zwischen dem theologisch formulierten Anspruch, dass durch Christi Geburt das Judentum überwunden sei, und dessen tatsächlich erlebten Fortbestand. Während im theologischen Schrifttum seit Augustinus den Juden eine belehrende Funktion für die Christen zugesprochen wird, setzen die von Mikosch besprochenen bildlichen Darstellungen den christlichen Machtanspruch rigoros durch.

Es ist der Herausgeberin gelungen, die Beiträger zu einer kreativen und immer wieder neue Einsichten hervorbringenden Auseinandersetzung mit dem methodischen «Hilfskonstruktion» der Unterscheidung von Visibilität und Visualität anzuregen. Dass die einzelnen Autoren die Leitbegriffe teilweise inhaltlich anders füllen, wird ganz im Sinne des Projektes gewesen sein, und wird wegen der stets geleisteten terminologischen Präzisierung nicht als Mangel wahrgenommen.

Zitierweise:
Stefan Matter: Rezension zu: Anja Rathmann-Lutz (Hg.): Visibilität des Unsichtbaren. Sehen und Verstehen in Mittelalter und Früher Neuzeit. Zürich, Chronos, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 2, 2012, S. 367-370

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 2, 2012, S. 367-370

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